Bruderhahn & Eintagsküken: Oh Brother, Where Art Thou?

Was passiert mit den sinnlos gleich nach dem Schlüpfen getöteten Eintagsküken? Eine Recherche.

An die 1000 aufgetaute Eintagsküken frisst Wildkatze Frieda jährlich. (Foto: J.Müller-Hauszer)

An die 1000 aufgetaute Eintagsküken frisst Wildkatze Frieda jährlich. Raubtierfütterung im Gehege des Nationalparks Thayatal. (Foto: J.Müller-Hauszer)

Fast immer endet die Berichterstattung um Eintagsküken beim jähen Tod der frisch geschlüpften Bruderhähne. Doch was passiert mit dem »Abfall« aus der industriellen Eier-Produktion? Eine Recherche entlang der Kühlkette hat uns in Zoos geführt und zu Händlern, die ihn als Futter für die Falkenjagd in den Nahen Osten und nach Nordafrika exportieren.

Kaum aufgetaut, schon aufgefressen: Zwei, drei Bissen, schon hat Kater Karlo das Eintagsküken hinuntergeschlungen. (Foto: M.Graf)

Kaum aufgetaut, schon aufgefressen: Zwei, drei Bissen, schon hat Kater Carlo das Eintagsküken hinuntergeschlungen. (Foto: M.Graf)

Süß sind sie ja schon. Doch – und das werden die Kinder gleich sehen, die da gebannt am Außengitter des Geheges festgekrallt warten – Frieda und Carlo sind alles andere als Schmusekätzchen. Wir beobachten Wildkatzen, scheu und schwer bedroht, die hier im Nationalpark Thayatal in einem Freigehege gehalten und jetzt gleich gefüttert werden. Zwölf tote Küken hat die Rangerin gerade erst im Gebüsch versteckt, in Baumstümpfen und hoch oben im Geäst. Sechs Happen für jede Katze als Tagesration, die sie sich einfach so, mir nichts dir nichts holen, kaum dass die Schleuse ins Außengehege geöffnet wird: ein kräftiger Sprung, drei schnelle Bissen, die Knochen knacken kurz; in ein paar Minuten haben sie alle verschlungen. Weder Schnäbel noch Federn bleiben zurück. Ein paar Wildkatzen gibt es hier in den Wäldern an der Grenze zu Tschechien auch in freier Wildbahn. Erst 2007 haben das DNA-Proben nachgewiesen. In freier Wildbahn bekäme man die Tiere allerdings nicht zu sehen. Frieda und Carlo geben ihren freilebenden Vettern einen Namen und damit ein Gesicht. Als Attraktion im Gehege machen sie ihre bedrohte, sonst scheue Art sichtbar. Den aufgetauten Küken, die sie gerade verschlungen haben, ging es bis vor kurzem nicht anders. Auch sie waren unsichtbar.

Henne : Hahn = 1 : 1
Und immer noch ist den wenigsten Menschen beim Löffeln ihres Frühstückseis bewusst, was in großen Brütereien in ihrem Namen geschieht: Statistisch gesehen kommt auf jedes weibliche Legehuhn ein geschlüpfter Hahn. Als schwachbrüstiger Bruder seiner aufs Eierlegen spezialisierten Schwester taugt er aber nicht zur Mast. Weshalb allein in Deutschland jährlich 42 Millionen Küken gleich nach dem Schlüpfen geshreddert oder vergast – und tiefgefroren als Tierfutter verkauft werden. In der Branche spricht man nüchtern von »Eintagsküken«. Tierschutzaktivisten haben das männliche Küken mit dem emotionalen Namen »Bruderhahn« bedacht. Ihr Ziel ist klar: das sinnlose Töten soll gestoppt werden.

Kein schöner Anblick, aber Alltag in Zoos, Wild- und Nationalparks: Eintagsküken als Tierfutter

Kein schöner Anblick, aber Alltag in Zoos, Wild- und Nationalparks: Eintagsküken als Tierfutter

2.000 Eintagsküken werden jährlich für Frieda und Carlo aufgetaut (deren Kost sonst Mäuse und Ratten ergänzen). Nicht nur der Nationalpark Thayatal, auch viele Zoos und Wildparks gehören zu den Abnehmern der anderweitig nicht gebrauchten Küken. So unterschiedlich etwa die Tiere des Berliner Zoos sind, so einheitlich ist ihre Nahrung – sofern es sich um Fleischfresser handelt: Diverse Raubtiere, Greifvögel, Eulen und Tiere der Fasanerie bekommen männliche Küken zum Fraß vorgeworfen. »In Zoos werden Eintagsküken generell keinesfalls als Abfallprodukte betrachtet, sondern stellen für die artgerechte Ernährung vieler Tiere ein hochwertiges Futter dar«, erklärt Rieke Edelhoff, die Sprecherin des Berliner Zoos. »Deswegen fällt auch der adäquate Ersatz besonders schwer.« Zumal Federn und Knochen für einige Arten – zum Beispiel Eulen oder Greifvögel – für die Verdauung wichtig sind. Im Münchner Zoo sieht man die Sache nicht anders. Nach Hellabrunn werden die Küken gekühlt geliefert und vor Ort eingefroren. »Mähnenwolf, Greifvögel und andere Vögel wie Marabu und Hornraben, Kleinkatzen, Füchse und Vielfraß, ebenso Erdmännchen, Wickelbär und Pinselohrschweine, aber auch unsere Eisbären bekommen einmal in der Woche Küken«, berichtet Verena Wiemann, Pressereferentin im Münchner Tierpark Hellabrunn. Im Wiener Zoo Schönbrunn bekommen Luchse, Wölfe, Schmutzgeier und Habichtskäuzchen, vor allem aber der Waldrapp, eine vom Aussterben bedrohte Schreitvogelart, Kükenkost vorgesetzt. »Die Küken werden jeweils vor der Fütterung aufgetaut,« erklärt Raili Kirchberger, Futtermeisterin in Schönbrunn. »Für die Waldrappe wird der Dottersack entfernt und die Küken werden halbiert. Auch bei den Blatthühnchen sind Eintagsküken Bestandteil der Nahrung. Für sie werden die Küken zusätzlich noch enthäutet und faschiert.« Ergänzend dazu werden immer wieder Mäuse, Ratten und Rindfleisch verfüttert.

"Nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt": Eintagsküken werden im Ganzen tiefgefroren oder "gewolft" angeboten, etwa vom Zoobedarf Hitzegrad.

„Nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt“: Eintagsküken werden im Ganzen tiefgefroren per Kilo oder „gewolft“ angeboten. (Screenshot von Zoobedarf Hitzegrad)

Löst Superhenne Sandy das Problem?
In absehbarer Zeit wird man sich überall um Alternativen umsehen müssen. Denn das Töten von Eintagsküken soll bald schon der Vergangenheit angehören. Während großindustrielle Legehennenbrütereien emsig forschen, um das Geschlecht der Küken bereits im Ei bestimmen zu können und die Hähne gar nicht erst auszubrüten, setzen die anderen – allen voran die Bioverbände Demeter und Bioland – auf die Zucht eines ökonomisch rentablen »Zweinutzungshuhns«, das sowohl Eier als auch Fleisch abwirft. In Österreich haben sich zumindest alle Biobetriebe zu einer umfassenden Branchenlösung des ethischen Problems durchgerungen: Superhenne »Sandy« – eine besonders legestarke Züchtung – soll so viele Eier legen, dass dieser Mehrertrag hilft, die langsam wachsenden Brüder bis zur Schlachtreife durchzufüttern.
Sandy heißt mit vollem Namen »Lohmann Sandy« und ist eine Zuchtlinie der zur niedersächsischen EW Group gehörenden Lohmann Tierzucht (LTZ). »Wir arbeiten schon seit Jahren daran, das Töten der männlichen Eintagsküken zu beenden«, sagt Rudolf Preisinger, Managing Director der LTZ. »Wir sind ausschließlich auf die Zucht von Legehennen spezialisiert. Unser Geschäftsmodell ist von der Geschlechtserkennung im Ei nicht betroffen.«
Derzeit ist allerdings vor allem der Export von Eintagsküken ein Geschäft, auch für die Lohmann Tierzucht: »Alle bei uns anfallenden Hahnenküken werden fast ausschließlich nach Spanien verkauft. Von dort aus werden außerdem Falknereien im Mittleren und Nahen Osten sowie Nordafrika beliefert.«

Superhenne und Schwester Sandy füttert in Österreich ihre schwachbrüstigen Brüder mit durch. Das Töten der Eintagsküken gehört in der österreichischen Bio-Eierproduktion künftig der Vergangenheit an. (Screenshot von LTZ)

Superhenne und Schwester Sandy füttert in Österreich ihre schwachbrüstigen Bruderhähne mit durch. Das Töten der Eintagsküken gehört in der österreichischen Bio-Eierproduktion künftig der Vergangenheit an. (Screenshot: LTZ)

 

Küken zum Kilopreis
Auch Händler Michael Hassel beliefert nicht nur den Nationalpark Thayatal, sondern Tierparks und Zoos in ganz Europa. Auch nach Nordafrika und in die arabischen Staaten liefert der Allgäuer Unternehmer. Das Kilo tiefgefrorener Küken – bestehend aus 20 bis 25 Tieren – verkauft er um 2,50 Euro. »Ratten und Mäuse sind in diesen enormen Mengen nicht nachzuzüchten«, fürchtet Michael Hassel. »Der Kostenfaktor für diese Alternative ist zirka das Achtfache.«

Frieda und Carlo scheint die Sache einerlei. Neben 2.000 Stück frisch geschlüpftem Federvieh vertilgen die beiden immer wieder auch aufgetaute Kleinnager mit demselben Heißhunger. Und während sich ihre Verpflegung ganz ohne Bruderhähne künftig womöglich etwas kostspieliger gestaltet, kommt auf die Geflügelbranche durch die Geschlechtsfrüherkennung bereits das nächste »Abfall«-Problem zu: Wohin mit 42 Millionen angebrüteten Eiern? In den Zoos von Berlin, Hellabrunn und Schönbrunn gibt es dafür jedenfalls keinen Bedarf.

 

Weiterführendes: Im Band „100 Punkte Tag für Tag. Miethühner, Guerilla-Grafting und weitere alltagstaugliche Ideen für eine bessere Welt“ von Thomas Weber, erschienen im Residenz Verlag, findet sich auch ein Kapitel mit dem Aufruf „Grill nicht nur die Henne, sondern auch den Hahn“.

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